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Aufhebung setzt realitätsnahe Auftragswertschätzung voraus!

18.05.2021

von RA Michael Werner

Die Vergabekammer (VK) Lüneburg hat mit Beschluss vom 06.10.2020 – VgK-33/2020 – u. a. folgendes entschieden:

Eine Aufhebung des Vergabeverfahrens wegen einer deutlichen Überschreitung des Auftragswerts setzt eine vertretbare, d. h. wirklichkeitsnahe und ordnungsgemäß dokumentierte Auftragswertschätzung voraus. Zudem müssen alle Angebote deutlich höher liegen als die objektiv vertretbare Auftragswertschätzung.


Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte den Umbau einer Anlage zur biologischen Restabfallbehandlung europaweit nach der EU VOB/A ausgeschrieben. In der EU-Bekanntmachung hatte er den geschätzten Auftragswert angegeben. Die entsprechende ex-ante-Schätzung des Auftragswerts war von einem Ingenieurbüro X ermittelt worden, und zwar mehr als ein Jahr, bevor die EU-Bekanntmachung veröffentlicht wurde. Bis zum Ablauf der Angebotsfrist gingen 3 Angebote ein.

Bieter A hatte das preislich niedrigste Angebot abgegeben. Sämtliche Angebotspreise lagen jedoch erheblich über dem vom AG ermittelten Schätzwert und überschritten das Budget. Nach einem Bietergespräch, in dem Unklarheiten und Widersprüche seines Angebotes aufgeklärt werden sollten, teilte der AG dem A mit, dass sein Angebot wegen Änderungen der Vergabeunterlagen ausgeschlossen werde. Gleichzeitig hob der AG das Vergabeverfahren auf, da kein wertbares Angebot vorlag. Der AG stützte die Aufhebung zudem auf einen „anderen schwerwiegenden Grund“ gem. § 17 Abs. 1 Nr. 3 EU VOB/A, da die Angebote unwirtschaftlich seien. Nach Rüge des A und deren Nichtabhilfe durch den AG stellte A Nachprüfungsantrag.

Die VK erachtet den Nachprüfungsantrag des A als unbegründet. Der AG habe das Angebot der A zu Recht aufgrund von unzulässigen Änderungen an den Vergabeunterlagen von der weiteren Wertung gemäß § 16 EU Nr. 2 VOB/A i. V. m. § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 VOB/A ausgeschlossen. Da auch die Angebote der beiden anderen Bieter ausgeschlossen worden seien, habe der AG die Ausschreibung gem. § 17 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A aufheben dürfen.

Allerdings hätten die Voraussetzungen für eine Aufhebung aus anderen schwerwiegenden Gründen gem. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A hier nicht vorgelegen. Ob ein anderer schwerwiegender Grund vorliege, sei im Rahmen einer am Einzelfall orientierten Interessenabwägung zu ermitteln, wobei – weil die Verfahrensaufhebung die Ausnahme bleiben müsse – strenge Anforderungen an das Aufhebungsinteresse zu stellen seien. So sei die Aufhebung nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die eingegangenen Angebote wirtschaftlich nicht den Vorstellungen des Auftraggebers entsprächen.

Eine derartig begründete Aufhebung setze nach einer Grundsatzentscheidung des BGH (BGH, Beschluss vom 20.11.2012 – X ZR 108/10) in jedem Fall eine deutliche Überschreitung des durch den AG vertretbar geschätzten Auftragswertes voraus. Eine vertretbare Auftragswertschätzung liege danach nur dann vor, wenn diese wirklichkeitsnah sei. Des Weiteren müssten alle Angebote deutlich höher liegen als die objektiv vertretbare Auftragswertschätzung des Auftraggebers.

Dabei lasse sich nicht durch allgemein verbindliche Werte nach Höhe oder Prozentsätzen festlegen, wann ein vertretbar geschätzter Auftragswert so deutlich überschritten sei, dass eine sanktionslose Aufhebung der Ausschreibung gerechtfertigt sei. Das Ausschreibungsergebnis müsse deshalb in der Regel ganz beträchtlich über dem Schätzungsergebnis liegen, um die Aufhebung zu recht-fertigen.

Im vorliegenden Fall sei zwar der vom AG geschätzte Auftragswert durch alle drei eingegangenen Angebote weit überschritten worden. Die in der Vergabeakte dokumentierte und vom AG im Nachprüfungsverfahren weiter erläuterte Schätzung des Auftragswertes im Vorfeld des Vergabeverfahrens genüge aber weder hinsichtlich der Aktualität der dazu – über ein Jahr vor Einleitung des Vergabeverfahrens – eingeholten Angebote noch hinsichtlich der Dokumentation den vergaberechtlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße, gemäß § 20 EU VOB/A i. V. m. § 8 Abs. 1 und 2 Nr. 1 VgV in der Vergabeakte zu dokumentierende ex-ante-Schätzung gemäß § 1 EU Abs. 2 VOB/A i. V. m. § 3 VgV.

Voraussetzung für eine Aufhebung der Ausschreibung bei einem nicht wirtschaftlichen Ergebnis sei stets, dass der Auftraggeber die Kosten für die Ausführung der Leistung vorab ordnungsgemäß kalkuliert habe. Erforderlich seien eine korrekte und zeitnahe sowie vor der Bekanntmachung stets anzupassende Kostenschätzung des Auftraggebers im Vorfeld des Vergabeverfahrens sowie gegebenenfalls Kostenvergleichslisten. Zweckmäßig, wenn auch nicht immer erforderlich, sei eine vorherige Markterkundung durch den Auftraggeber. Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Kostenschätzung des Auftraggebers sei aber stets, dass dieser von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei und alle zu vergebenden Leistungen in die Kostenberechnung mit einbeziehe. Eine objektiv ordnungsgemäße Kostenschätzung durch den Auftraggeber müsse daher auf der Grundlage aller verfügbaren sowie kostenrelevanten Faktoren und Daten angemessen und methodisch vertretbar erfolgen.

Die hier vorliegende ex-ante-Schätzung, die der AG im Rahmen der Vorbereitung des Vergabeverfahrens vorgenommen und sich dazu der Dienste des Ingenieurbüros X bedient habe, genüge diesen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Kostenschätzung schon deshalb nicht, weil ihr keine zeitnah im Vorfeld der Vergabebekanntmachung ermittelten Marktdaten oder Angebote zugrunde gelegt worden seien.

Da der AG das Angebot des Bieters A aber zu Recht wegen unzulässiger Änderungen der Vergabeunterlagen gemäß § 16 EU Nr. 2 VOB/A i. V. m. § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 VOB/A ausgeschlossen habe und die beiden anderen am Vergabeverfahren beteiligten Bieter den Ausschluss ihrer Angebote akzeptiert hätten, habe der AG zu Recht entschieden, das Vergabeverfahren mangels Vorliegen von Angeboten, die den Ausschreibungsbedingungen entsprachen, gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A aufzuheben.

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Anmerkung:

Wie die Entscheidung zeigt, sind die Voraussetzungen für eine Aufhebung wegen Unwirtschaftlichkeit der Angebote sehr hoch – es gelten dabei strenge Anforderungen an eine sachgerechte Auftragswertschätzung des AG. So müssen einmal die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Leistung grundsätzlich deckungsgleich sein. Das Ergebnis der Schätzung ist dann anzupassen, wenn die der Schätzung zugrunde gelegten Preise oder Preisbemessungsfaktoren im Zeitpunkt der Bekanntmachung nicht mehr aktuell sind oder sich nicht unerheblich verändert haben. Denn – wie die VK Lüneburg in dieser Entscheidung ebenfalls ausführt – darf das Institut der Aufhebung des Verfahrens nicht zu einem für öffentliche Auftraggeber latent verfügbaren wohlfeilen Instrument zur Korrektur der in öffentlicher Ausschreibung eingeholten Submissionsergebnisse geraten.

  Quelle:


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