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Corona-Pandemie kann Aufhebungsgrund darstellen

22.09.2020

Die schnelle und akute Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 hat ganz Deutschland sozial, ökologisch und wirtschaftlich getroffen. Auch öffentliche Auftraggeber sehen sich angesichts teils sehr dynamischer Marktbewegungen, oft kurzfristig veränderter Beschaffungsbedarfe, wirtschaftlich angeschlagener Bieter und Auftragnehmer oder Schwierigkeiten in der Vertragsdurchführung durch eine veränderte Arbeitswelt vor eine Vielzahl an Problemen gestellt.

Nicht selten stellt sich derzeit öffentlichen Auftraggebern die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einem durch die Corona-Krise veränderten Bedarf oder einer Änderung der Marktverhältnisse die Aufhebung eines laufenden Vergabeverfahrens in Betracht kommt. Mit der 1. Vergabekammer des Bundes hat sich nun erstmals eine Nachprüfungsinstanz dezidiert mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Voraussetzungen Vergabeverfahren aufgrund der pandemischen Ausbreitung des Coronavirus rechtmäßig aufgehoben werden können (Beschluss vom 6. Mai 2020 – VK 1-32/20).

SACHVERHALT
Die Antragsgegnerin ist eine für mehrere Bedarfsträger zuständige Vergabestelle. Mit EU-Bekanntmachung vom 17. Januar 2020 schrieb sie ein europaweites offenes Verfahren zur Vergabe von Arbeitsmarktmaßnahmen zur individuellen Förderung von jungen Menschen mit Defiziten in mehreren Losen für die einzelnen Bedarfsträger aus. Maßnahmenbeginn sollte der 4. Mai 2020 sein. Bei den ausgeschriebenen Fördermaßnahmen war die physische Präsenz der Teilnehmer vorgesehen und notwendig.

Die Antragstellerin gab darauf ein Angebot ab. Mit Schreiben vom 13. März 2020 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass sie nach dem derzeitigen Stand des Vergabeverfahrens beabsichtige, ihr den Zuschlag zu erteilen. Infolge der pandemischen Ausbreitung des Coronavirus ab Mitte März stellte die Vergabestelle interne Überlegungen dahingehend an, ob die Weiterführung der Arbeitsmarktmaßnahmen im Hinblick auf die aktuelle Situation sinnvoll sei. Sie betrachtete dabei den eventuell veränderten Bedarf am Arbeitsmarkt, eine mögliche Umschichtung von Haushaltsmitteln und die aufgrund der Ausbreitung des Virus aktuell gestoppte Zuweisung von Teilnehmern in laufende Maßnahmen mit physischer Anwesenheitspflicht. Die Antragsgegnerin notierte diese Erwägungen mit Vermerk vom 19. März 2020 in der Vergabeakte und übertrug die Entscheidung über den Zuschlag dem haushaltsrechtlich für das Los zuständigen Bedarfsträger. Der zuständige Bedarfsträger bat daraufhin um Aufhebung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens.
Am 23. März 2020 teilte die Antragsgegnerin allen Bietern mit, dass in Anwendung des § 63 Abs. 2 i. V. m. § 63 Abs. 1 Nr. 2 VgV das streitgegenständliche Vergabeverfahren aufgehoben werden müsse, weil sich die Grundlage des Vergabeverfahrens aufgrund der Corona-Pandemie wesentlich geändert habe. Die Ausbreitung des Coronavirus und die damit verbundene Pandemie sei ein nicht vorhersehbares Ereignis, welches die Bedingungen am Arbeitsmarkt erheblich verändern werde. Es sei durch die Ausbreitung des Virus nicht planbar, wann und ob die ausgeschriebenen Leistungen überhaupt benötigt werden. Die Antragstellerin rügte daraufhin die Aufhebung als rechtswidrig und beantragte bei der Vergabekammer des Bundes die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens mit dem Ziel der Fortsetzung des Vergabeverfahrens und der Erteilung des Zuschlags wie beabsichtigt an sie.

ENTSCHEIDUNG
Der Nachprüfungsantrag hatte keinen Erfolg. Die 1. Vergabekammer des Bundes entschied mit Beschluss vom 6. Mai 2020 (VK 1-32/20), dass der Nachprüfungsantrag zulässig, aber unbegründet sei. Der Antragstellerin stehe kein Anspruch auf Aufhebung der Aufhebungsentscheidung zu. Die Antragsgegnerin habe die Ausschreibung rechtmäßig aufgehoben.

Die Vergabekammer stellte zunächst klar, dass ein öffentlicher Auftraggeber nach § 63 Abs. 1 S. 2 VgV stets von einem Vergabeverfahren Abstand nehmen könne, selbst dann, wenn dafür kein in den Vergabe- und Vertragsordnungen anerkannter Aufhebungsgrund vorliege. Auch im Vergabeverfahren gelte insoweit der Grundsatz der Privatautonomie, nach dem der Abschluss des privatrechtlichen Vertrages in der Entscheidungsgewalt des Ausschreibenden liege. Es könnten unabhängig von den in § 63 Abs. 1 S. 1 VgV normierten Tatbeständen verschiedene Gründe vorliegen, die den öffentlichen Auftraggeber daran hinderten, eine einmal in die Wege geleitete Ausschreibung ordnungsgemäß mit der Erteilung eines Zuschlags zu beenden. Notwendige Voraussetzung für die Aufhebung könne daher nur sein, dass der öffentliche Auftraggeber für seine Aufhebungsentscheidung einen sachlichen Grund vorweise, sodass eine Diskriminierung einzelner Bieter ausgeschlossen und seine Entscheidung nicht willkürlich sei oder lediglich zum Schein erfolge.

Ein sachlicher Grund liege vorliegend bereits darin, dass sich die Corona-Pandemie auf dem Arbeitsmarkt generell und im Besonderen auf das wirtschaftliche Umfeld von Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mit Defiziten erheblich auswirke, wie es die Antragsgegnerin nachvollziehbar vorgetragen habe. Aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin ab dem 16. März 2020 eine Vielzahl gleichgelagerter Vergabeverfahren mit derselben Begründung aufgehoben habe, ergäbe sich zudem, dass Anhaltspunkte für eine Scheinaufhebung oder eine gezielte Diskriminierung der Antragstellerin nicht existierten.Nach Maßgabe des § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV ist die Aufhebung laut Vergabekammer auch rechtmäßig erfolgt. Die Antragsgegnerin als öffentliche Auftraggeberin sei zur Aufhebung befugt gewesen, weil sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich geändert hätte (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VgV). Das ihr dabei zustehende Ermessen habe die Antragsgegnerin fehlerfrei ausgeübt. Auch Verstöße gegen die Begründungspflicht nach § 63 Abs. 2 Satz 1 VgV sowie gegen die diesbezügliche Dokumentationspflicht lägen nicht vor.

Beim Aufhebungsgrund des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VgV sei in zeitlicher Hinsicht entscheidend, auf wesentliche Änderungen, die nach Einleitung des Vergabeverfahrens, aber vor abschließender Zuschlagserteilung auftreten, abzustellen. Sowohl die akute pandemische Ausbreitung des Coronavirus als auch die damit einhergehenden wirtschaftlichen Beeinträchtigungen durch Betriebsschließungen seien erst nach der Bekanntmachung am 17. Januar 2020 eingetreten. Auf den Zeitpunkt der vorläufigen Zuschlagsentscheidung und der diesbezüglichen Information vom 13. März 2020 komme es nicht an. Überdies sei gerade nach dem 13. März 2020 eine weitere gravierende Veränderung der Ausgangslage eingetreten.

In sachlicher Hinsicht liege eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens vor, die, wie auch die Antragstellerin nicht in Frage stelle, weder der Antragstellerin noch der Antragsgegnerin zugerechnet werden könne. Die Corona-Pandemie sei eine wesentliche Änderung der Grundlagen des Vergabeverfahrens, da, wie die Antragsgegnerin zutreffend vorgetragen habe, die ausgeschriebene Maßnahmenkombination eines Förderzentrums für junge Menschen mit Defiziten angesichts der coronabedingten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wenig erfolgsversprechend sei. Die Gewinnung von Nachwuchskräften mit zusätzlich persönlichen Problemlagen stehe nicht im Fokus der Unternehmen, da diese aktuell vermehrt bereits Schwierigkeiten haben, ihr Stammpersonal zu halten. Darüber hinaus bestehe ein weiteres Problem in der Schwierigkeit der Kontaktaufnahme sowie der aktuell nicht möglichen Abhaltung von Präsenzveranstaltungen, die die Nutzung eines entsprechenden Förderzentrums zusätzlich erheblich erschweren würden.Ferner stelle auch die Änderung der Finanzierungsgrundlagen eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens und damit einen rechtmäßigen Aufhebungsgrund dar. Durch die Corona-Pandemie könne eine gesicherte Finanzierung aufgrund von eventuellen Haushaltssperrungen nicht garantiert und der Antragsgegnerin auch nicht zugemutet werden. Die Antragsgegnerin habe in diesem Punkt nachvollziehbar dargelegt, dass die Verwendung von Haushaltsmitteln angesichts der akut anfallenden beträchtlichen Aufgabenverlagerungen in wichtigere Produkte für die Kunden des Bedarfsträgers neu überdacht und konzipiert werden müsse.

Die Antragsgegnerin habe darüber hinaus ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt. In ihren internen Überlegungen habe sie zahlreiche Aspekte der aus der Corona-Pandemie entstehenden Situation für die laufenden Vergabeverfahren diskutiert und Lösungsansätze abgewogen. Die Entscheidungsverlagerung auf die örtlichen Bedarfsträger sei im Hinblick auf deren haushaltsrechtliche Verantwortlichkeit und Funktion als „Vor-Ort-Tätige“ nicht zu beanstanden.

PRAXISTIPP

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie werden die öffentlichen Auftraggeber noch auf Jahre beschäftigen. Gerade mit Blick auf eine etwaige zweite Welle und die bestehenden Unsicherheiten über die Entwicklung und Bereitstellung von Impfstoffen zur Vorbeugung und von Medikamenten zur Behandlung von COVID-19 ist die vorliegende Entscheidung der Vergabekammer des Bundes wichtig und richtungsweisend.
Teils sehr kurzfristige Bedarfsänderungen oder sonstige Hinderungsgründe für einen Zuschlag aufgrund der oftmals sehr dynamischen Entwicklung der Corona-Krise sind auch in Zukunft durchaus zu erwarten. Dem Auftraggeber muss es in solchen Fällen in letzter Konsequenz auch möglich sein, das Vergabeverfahren aufheben zu können.

Die Entscheidung überzeugt vor diesem Hintergrund. Die VK Bund stellt zunächst Altbekanntes noch einmal mit deutlichen Worten heraus: Der Auftraggeber wird – selbst wenn er schon eine Information nach § 134 GWB erteilt hat – durch das Vergaberecht nicht zum Vertragsschluss gezwungen, solange dieser für seine Aufhebungsentscheidung einen sachlichen Grund vorweist und die Aufhebung diskriminierungsfrei und nicht lediglich zum Schein erfolgt. Im Vergabeverfahren gilt der Grundsatz der Privatautonomie.

Auch dass die akute Ausbreitung der Corona-Pandemie im März / April 2020 in sachlicher Hinsicht als wesentliche Änderung der Grundlage eines Vergabeverfahrens taugt und für den Auftraggeber nicht vorhersehbar und zurechenbar war, ist im Ergebnis wenig überraschend. Gleichwohl setzt sich die VK intensiv mit den tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie auf die konkret ausgeschriebene Leistung und den diesbezüglichen Erwägungen des Auftraggebers auseinander. Pauschale Verweise auf die Corona-Krise werden – auch in Anbetracht der nunmehr schon vorliegenden Erfahrungen mit der Pandemie – künftig nicht genügen, um eine wesentliche Änderung in sachlicher Hinsicht zu begründen. Erster Schritt muss stets die Prüfung sein, ob und inwieweit die eingetretene Bedarfsänderung im Hinblick auf den konkreten Ausschreibungsgegenstand tatsächlich auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie, z. B. beim Auftreten einer zweiten Welle, zurückzuführen ist. Im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung über die Aufhebung des Vergabeverfahrens sind sodann die maßgeblichen Gesichtspunkte für und gegen eine Aufhebung zu sammeln, zu bewerten und verschiedene Lösungswege, z. B. auch eine Streckung des Zeitplans oder eine Änderung des Mengengerüsts, gegeneinander abzuwägen. Rechtlich interessant ist in diesem Zusammenhang die zeitliche Einordnung der VK Bund: Die wesentliche Änderung muss nach der Einleitung des Vergabeverfahrens und vor der abschließenden Zuschlagserteilung eingetreten sein. Die vorangehende – vorläufige – Zuschlagsentscheidung und das Informationsschreiben nach § 134 GWB sind somit auf der Zeitlinie nicht relevant.

Wie so oft ist bei alledem die zeitnahe und ausführliche Dokumentation der (Aufhebungs-) Entscheidung des Auftraggebers von entscheidender Bedeutung für den Ausgang des Nachprüfungsverfahrens. Auftraggeber sollten darauf achten, die coronabedingte Bedarfsänderung oder das Zuschlagshindernis, die konkreten Auswirkungen auf die ausgeschriebene Leistung und die ihn bei der Entscheidung für die Aufhebung leitenden Erwägungen in der Vergabeakte ausführlich zu notieren. Auch der erforderliche Abwägungsprozess, der für und gegen eine Aufhebung sprechender Gesichtspunkte, sollte sich nachvollziehbar aus der Vergabeakte ablesen lassen. Die Entscheidung der VK Bund dient nicht als Freibrief für eine Aufhebung unter dem pauschalen Schlagwort „Corona“.

Bieter wiederum haben in aller Regel keinen Anspruch auf die Fortsetzung von Vergabeverfahren. Auch noch kurz vor Zuschlagserteilung – selbst, wenn die Wartefrist gemäß § 134 GWB schon angelaufen ist – kann ein Auftraggeber ein Vergabeverfahren aufheben, wenn für ihn in der Beschaffung kein Sinn mehr zu erkennen ist. Anders kann dies nur sein, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für eine Scheinaufhebung oder eine gezielte Diskriminierung zulasten des Bieters abzeichnen. Selbst wenn einer Aufhebung im Regelfall wenig entgegengesetzt werden kann: Gelingt es dem Auftraggeber nicht, einen gesetzlichen Aufhebungsgrund, wie die wesentliche Änderung der Grundlage des Verfahrens aufgrund der Corona-Krise nachvollziehbar darzulegen, können im Einzelfall zumindest Schadensersatzansprüche in Betracht kommen..

  Quelle: SUPPLY-Magazin 4/2020


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