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Präsident der Bundesingenieurkammer, Hans-Ullrich Kammeyer, über den Normungswahn im Bauwesen

01.12.2014

Dipl.-Ing. Hans-Ullrich Kammeyer ist seit dem Jahr 2012 Präsident der Bundesingenieurkammer, Dachorganisation der 16 deutschen Ingenieurkammern. Der gebürtige Hamburger ist Gesellschafter der Nord-West Planungsgesellschaft mbH in Hannover. Er ist zudem auch Präsident der niedersächsischen Ingenieurkammer. In diesem Interview spricht er über die immer komplizierteren und teilweise unvereinbaren Normungen im Bauwesen und nimmt die Politik in die Pflicht, für notwendige Vereinfachungen des teilweise sogar widersprüchlichen Vorschriften-Dickichts zu sorgen.

Herr Kammeyer, ist die Kritik an den größtenteils 2012 eingeführten Eurocodes berechtigt?
Ja. Diese Kritik ist völlig berechtigt. In Deutschland ist das Normenwesen ja traditionell privat. Das heißt: Die Wirtschaft hat die Normen des Deutschen Instituts für Normung (DIN-Normen) selbst gemacht. Das ist in anderen Teilen Europas anders. Als die Eurocodes (EC) geschaffen wurden, haben sich andere Staaten stärker in den Regelungsprozess eingebracht als Deutschland. Die private Seite hierzulande hat vielleicht unterschätzt, welche Regelungslawine aus Europa zu uns kommt. So kam es, dass statt vernünftiger schlanker Normungen ein Sammelsurium vieler Regelungen aus den verschiedenen Euro-Staaten in den Eurocodes enthalten ist. Resultat: Die alte Stahlbaunorm zum Beispiel hatte früher circa 100 Seiten, der Eurocode hat heute circa 500 Seiten. Ähnlich sieht es im Massivbau, im Holzbau und im Mauerwerksbau aus. Streng genommen kann niemand am Bau heute behaupten: „Ich habe die Norm bis zum letzten Buchstaben eingehalten.“ Das ist unter normalen Umständen gar nicht möglich, weil niemand Normen dieser Größenordnung komplett im Kopf haben kann. Darüber hinaus sind hier auch Bereiche geregelt, die im Baualltag höchst selten vorkommen.

Welche Bereiche meinen Sie da konkret?
Ich habe selbst in einigen Normenausschüssen Vereinfachungsvorschläge unterbreitet. Das wurde regelmäßig abgelehnt unter Verweis auf Spezialfälle, die in der täglichen Praxis kaum vorkommen. Die Initiative „Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen e. V.“, ein von Wirtschaft, Kammern und Verbänden ins Leben gerufener Verein zur Normenvereinfachung, hat eine ganze Reihe von Vereinfachungsvorschlägen erarbeitet. Es ist aber sehr schwer, die verfahrene Situation wieder zu begradigen und die Eurocodes wirksam zu vereinfachen.

Ist diese Normungs- und Regelungskulisse durch einen normalen Bauunternehmer ohne Jurastudium noch beherrschbar?
Eindeutig nein! Und das betrifft nicht allein die Baupraktiker, sondern auch Experten für Normung. Wenn ich heute als Prüfingenieur mit meiner Unterschrift bescheinige, dass etwas normgerecht ist, kann ich das letztlich nicht bis in den letzten Buchstaben dieser Regelungswerke hinein bestätigen. Für einen normalen Bauunternehmer ist es völlig unmöglich, alle Details der immer komplexeren Vorschriften im Kopf zu haben, für deren Einhaltung er de jure geradezustehen hat.

Können wir eine kurzfristige Besserung erwarten?
Nein. Der einzige Weg, der aus meiner Sicht gangbar ist: Wir führen bauaufsichtlich nur ein, was wir für sinnvoll halten. Das müsste die ARGEBAU, die Konferenz der 16 Bauminister in den Bundesländern, so beschließen. Die niedersächsische Bauministerin Cornelia Rundt sollte sich bei ihren Kollegen in der ARGEBAU für ein solches Vorgehen einsetzen. Es kommt aber nicht alles nur aus Europa. Einiges am neuen Regelungsdickicht ist hierzulande hausgemacht. Früher hatten wir eine Energieeinsparverordnung (EnEV), die mit wenigen Seiten auskam. Die EnEV bringt es mit begleitender Normung heute auf 1.100 Seiten. Bereits in den 80er-Jahren haben wir über die bauaufsichtliche Normung als Teilmenge der anerkannten Regeln der Technik versucht, den geregelten Bereich einzuschränken. Diesen Schritt müssen wir in diesem Jahrzehnt wieder gehen. Auch hier könnte uns die niedersächsische Bauministerin unterstützen.

Wie können wir uns vor weiterem Regelungsdickicht schützen?
Wir müssen die Spreu vom Weizen trennen – das heißt: im Baualltag wirklich wichtige und auch sinnvolle Vorschriften in den Vordergrund und Regelungen für exotische Fälle in den Hintergrund stellen. Die Prüfingenieure haben für die Massivbaunorm eine gestraffte Fassung erarbeitet, die 95 Prozent aller Fälle im Baualltag abdeckt und handhabbar ist. Solche vereinfachten Fassungen lassen sich auch für andere Bereiche anfertigen. Und wenn man nur diese verkürzten Normungen bauaufsichtlich einführen würde, hätte man ein handhabbares Regelwerk. Dies liegt in der Entscheidung der ARGEBAU, zu der auch die niedersächsische Bauministerin, Frau Rundt, gehört. Sie könnte helfen, die notwendigen Vereinfachungen voranzutreiben.

Eine nationale Norm, die regelmäßig für Ärger sorgt, ist die Wärmeschutznormung DIN 4108. Besteht die Verärgerung aus Ihrer Sicht zu Recht?
Eindeutig ja. Denn die erhobenen Forderungen lassen sich nur mit hochkomplexer Bauweise erreichen. Beim jüngsten Runden Tisch mit Bauministerin Rundt hat ein Vertreter der Ziegelindustrie vorgetragen, dass er die in Deutschland übliche Form des Ziegelbaus verlassen müsse, wenn die EnEV weiter fortgeschrieben wird. Denn mit Ziegelbauten seien die gewünschten Werte unabhängig von der Konstruktion nicht erreichbar. Das Anforderungsprofil, das eine Haushülle beim Wärmedurchgang erreichen müsse, sei mit normalen Bauweisen nicht realisierbar! Hier ist etwa ein Dämmungspaket von 22 Zentimetern erforderlich. Das Problem: Rund um die Fenster ist dies kaum sinnvoll zu lösen. Hier erkennt man bereits auf den ersten Blick, wie schwierig das sein muss!

Sind die politischen Klimaziele zu ehrgeizig?
Solche Konstruktionen bei Neubauten haben natürlich mit dem Klimaschutz zu tun. Diese Klimaziele will ich hier gar nicht in Zweifel ziehen. Aber die Umsetzung dieser Ziele am Bau muss andere Wege gehen. Wir können nicht alles über die Neubauten lösen, wo wir bereits sehr hohe Standards haben. Wir müssen Lösungen finden, wie wir auch die Sanierung von Altbauten vorantreiben können. Hier braucht es entsprechende Investitionsanreize zum Beispiel für Wohnungsbaugesellschaften. Das wird schwierig, weil diese Gesellschaften ihre Aufwände nicht hinreichend auf die Mieten umlegen können.

Sie sprechen die Absetzung für Abnutzung (AfA) und Mietpreisbremse an ...
... Deshalb passiert hier in der Sanierung zu wenig. Politik darf aber in diesem Dilemma nicht alles den Neubauten aufbürden. Das ist nicht durchführbar. Dessen sind sich nach meinen Informationen auch die Bauexperten im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit bewusst. Sie liegen sich darüber mit ihren Umweltkollegen in den Haaren, wie die in Europa formulierten und vom Bundeskanzleramt unterstützten Wünsche umgesetzt werden können. Und die Baubranche wartet derweil auf praktikable Lösungen. Unsere Kollegen auf Architektenseite favorisieren gemittelte Lösungen für ganze Wohnquartiere.

Ein weiteres Ärgernis ist der Lärmschutz nach DIN 4109. Baufachleute kritisieren die völlig unzureichenden Konstruktionen dieser Norm.
Diese Beschwerden sind berechtigt. Schlimmer noch: Wer die Vorgaben der Lärmschutz-DIN 4109 erfüllen will, bekommt Probleme mit der Wärmeschutz-DIN 4108. Wärmeschutz erfordert oft sehr leichte Bauteile. Schallschutz braucht Masse. Das ist ein praktisch kaum lösbarer Widerspruch.

Es gibt 13 aufgeführte Möglichkeiten der Schallübertragung. Kann man die als Baupraktiker alle im Kopf haben?
Nein. Ausgeschlossen. Wer die neben allen anderen Vorschriften auch noch stets präsent haben will, kommt nicht mehr zum Bauen. Dafür braucht man Spezialisten – und Generalisten am Bau, die wissen, welche Spezialisten für welchen Fall hinzugezogen werden müssen. Wir entwickeln uns am Bau hier in eine Richtung, die praktisch nicht mehr umzusetzen ist.

Die Bundesregierung hat eine Normenkontrollkommission mit dem hehren Ziel ins Leben gerufen, Bürokratieaufwand durch neue Gesetze und Normen zu reduzieren. Wie ist der Effekt bezogen auf den Bau?
Ich weiß, dass es diese Kommission gibt, aber bezogen auf den Bau habe ich noch nie etwas Zielführendes von ihr gehört. Wir haben eher den Eindruck, dass hier über das Normen von Normenerstellungen nachgedacht wird. Für die Baupraxis bringt das nichts! Sicher müssen sich Bundes- und Landesregierungen stärker als bisher mit eigenen Fachleuten in den Normungsprozess einbringen, um die Interessen der hiesigen Baubetriebe und Arbeitsplätze zu schützen. Das tun andere Staaten auch! Ehrenamtliche Kräfte in Normungsausschüssen können den wachsenden Regelungsdruck aus Europa, aber auch im eigenen Land, nicht mehr alleine ausreichend moderieren und in vernünftige Bahnen lenken.

Über unseren Verein „Initiative Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen e.V.“ bezahlen Verbände, Kammern und Unternehmen bereits jetzt Experten. Wir investieren hier Jahr für Jahr viele hunderttausend Euro für die Normenvereinfachung. Hier brauchen wir eine stärkere auch finanzielle Unterstützung des Staates, schließlich geht es um den Schutz unserer Wirtschaft und deren Arbeitsplätzen. Der Normungsprozess ist einmal auf wirtschaftlicher Ebene entstanden, um Vereinfachungen und Vereinheitlichung zu erreichen. Inzwischen führt er vor allem auf europäischer Ebene zu Verkomplizierungen. Natürlich hat sich unsere technische Entwicklung deutlich beschleunigt. Die vernünftige Regelung dieses Prozesses fordert den Staat. Er muss sich am notwendigen Vereinfachungsprozess beteiligen.

Was empfehlen Sie einem Bauunternehmer, der ratlos ist?
Er kann sich an die Kammern und Verbände wenden. Hier sitzen Fachleute, die oft Hilfestellung leisten können und grundsätzlich auch gute Verbindungen zum DIN haben. Das DIN hat ja selbst ein Problem mit dem aktuellen Zustand. Vor allem in größeren Städten und Landkreisen lassen sich zumindest bauaufsichtliche Zweifelsfragen auch direkt mit den Fachleuten der dortigen Bauaufsichten klären. Gute Leute gibt es auch in den obersten Bauaufsichtsbehörden der Länder. Meine Erfahrung ist, dass diese Experten vernünftige Fragen auch gern und fundiert beantworten. Zornesausbrüche am Telefon sollte man natürlich vermeiden ...

  Quelle: Baugewerbe-Verband Niedersachsen


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