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Preissteigerungen wegen des Ukraine-Kriegs sind ungewöhnliches Wagnis!

08.11.2022

Die Vergabekammer (VK) Westfalen hat mit Beschluss vom 12.07.2022 – VK 3-24/22 – u.a. folgendes entschieden:

1. Ungeachtet seines Inhalts entfaltet eine inneradministrativ wirkende Vorschrift wie etwa ein Vergabeerlass keine vergaberechtliche Relevanz in einem Nachprüfungsverfahren.

2. Ein ungewöhnliches Wagnis gem. § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A kann dann gegeben sein, wenn das Wagnis über die üblichen Risiken hinausgeht, sich nicht abschätzen lässt und demzufolge eine Kalkulation unmöglich macht.

3. Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen, wobei unbeachtlich ist, ob das Wagnis vom Auftraggeber selbst oder weder von ihm noch dem Auftragnehmer beherrschbar ist.

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RA Michael Werner

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte im Januar 2022 Rohbauarbeiten im offenen Verfahren mit einer Angebotsfrist bis zum 04.03.2022 auf Basis einer Kostenschätzung von November 2021 europaweit ausgeschrieben. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Bieter A reichte das günstigste Angebot ein. Nach Submission teilte A mit, er könne aufgrund der infolge des Ukraine-Kriegs eingetretenen Preissteigerungen die Angebotspreise nicht halten, worauf der AG eine „Aufklärung zur Auskömmlichkeit der Angebote“ ankündigte. Im Vergabevermerk hielt der AG fest, dass die Auftragswertschätzung nicht mehr zutreffend sei. Eine von ihm durchgeführte neue Kostenschätzung fiel um ca. 50% höher aus als die ursprüngliche von November 2021. Darauf forderte der AG die Bieter zur Bestätigung der Auskömmlichkeit der Angebote auf; drei der vier Bieter gaben diese nicht ab. Der AG schloss darauf das Angebot des A wegen unangemessen niedrigen Preises aus. Dagegen wehrte sich A u.a. mit Verweis auf den Ministerialerlass vom 25.03.2022, der eine Preisgleitung wegen der durch den Ukraine-Krieg verursachten Preissteigerungen vorsah.

Die VK gibt Bieter A Recht. Die VK weist zunächst darauf hin, dass es sich weder bei einem Ministerialschreiben eines Bundeslandes noch beim Erlass des Bundesministeriums um Vergabevorschriften handeln würde und ungeachtet seines Inhalts als inneradministrativ wirkende Vorschrift keine vergaberechtliche Relevanz in einem Nachprüfungsverfahren entfalten könne. Deren Einhaltung könne daher allenfalls im Verwaltungsrechtsweg nachprüfbar sein.

Allerdings habe hier der AG dem A ein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet und verletze somit das bieterschützende Gebot des § 7 EU Absatz 1 Nummer 3 VOB/A. Ausweislich dieser Vorschrift dürfe dem Auftragnehmer (AN) kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss habe und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus abschätzen könne. Zwar bedeute dies nicht, dass dem AN gar kein Wagnis auferlegt werden dürfe. Gewöhnliche Wagnisse, wie etwa die Beschaffenheit und Finanzierbarkeit von Materialien oder Preis- und Kalkulationsrisiken, die dem Bieter in einem jeweiligen Marktsegment typischerweise obliegen würden, vertragstypisch und dem Rechtsverkehr nicht fremd seien, gehörten gerade zum Wesen der Privatautonomie und fielen nicht in den Anwendungsbereich des § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A. Erst dann, wenn das aufgebürdete Wagnis über die üblichen Risiken hinausgehe, sich nicht abschätzen lasse und demzufolge eine Kalkulation unmöglich mache, könne gegen diese Vorschrift verstoßen werden.

Unzumutbar sei eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation dann, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliege, hinausgehe - unabhängig davon, ob das Wagnis vom AG selbst oder weder von ihm noch vom AN beherrschbar sei. Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation gemessen an diesen Maßstäben unzumutbar sei, bestimme sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter bzw. Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall.
Ausgehend von diesen Grundsätzen führe eine Abwägung der beteiligten Interessen zu dem Ergebnis, dass dem A eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation nicht zumutbar gewesen sei. Der fehlende kalkulatorische Ausgleich belaste den A mit Kalkulationsrisiken, die über das typischerweise einem Bieter obliegenden Maß hinausgingen. Im Falle der Zuschlagserteilung müsste A das Risiko von erheblichen Preissteigerungen in Folge der Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine tragen, deren Umfang bei Angebotsabgabe nicht zu ermitteln gewesen seien.

Gerade der Umstand, dass in Folge der in mehreren Stufen verabschiedeten Sanktionspakete und des Andauerns der Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine die Preise für Baustoffe insgesamt stetig und in erheblichen Umfang anstiegen, verdeutlichten, dass eine Risikobewertung hinsichtlich der Preisprüfung nicht möglich sei.

Deswegen sehe auch der Erlass vor, dass bei Vergabeverfahren, in denen bereits die Angebotsöffnung erfolgt sei, diese in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und mit einer Stoffgleitpreisklausel zu versehen seien. Darüber hinaus zeige auch das Ergebnis der zweiten Kostenschätzung, dass in der Zeit zwischen dem Ausbruch der Kampfhandlungen und dem Ende der Angebotsfrist keine kaufmännisch vertretbaren Angebote, die die Preissteigerungen prognostizierten, hätten erstellt werden können.
Im Ergebnis trete daher das Interesse des AG, an seinen Vergabeunterlagen festzuhalten und keinen kalkulatorischen Ausgleich zu schaffen, hinter dem Interesse des A an einer realistischen Angebotskalkulation zurück. Insbesondere sei es dem AG möglich und zumutbar, dem Interesse des A an einer dem typischen Risiko unterliegenden Angebotskalkulation etwa durch die Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln Rechnung zu tragen.

Anmerkung:

Wie die Entscheidung zeigt, sind nach Ansicht der VK bei solchen außergewöhnlichen Ereignissen wie dem Ukraine-Krieg seitens der Auftraggeber auf jeden Fall Stoffpreisgleitklauseln vorzusehen, auch wenn die dazu vorgesehenen Formulare für die Implementierung von Stoffpreisgleitklauseln (z.B. das häufig verwendete Formular 225) seitens der Bieter oft als nicht praxistauglich oder nicht handhabbar empfunden wird. Denn allein ein "sperriges" Formular kann grundsätzlich die Übertragung eines ungewöhnlichen Wagnisses nicht rechtfertigen. Bei Verwendung eines solchen „sperrigen“ Formulars können sich somit die Bieter nicht mehr auf einen Verstoß gegen § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A berufen oder infolge der preislichen Verwerfungen eine Anpassung des Vertrages entsprechend § 313 BGB (wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage) fordern.

  Quelle: RA Michael Werner


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