zurück

Vergaberechtlicher Newsflash im Juni 2012

06.06.2012

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die vergaberechtliche Ausschreibungs- und Überprüfungspraxis zeichnet sich durch besonders häufig anzutreffende unbestimmte Rechtsbegriffe aus und durch die Einräumung von Handlungsoptionen. Nach § 97 Abs. 4 GWB werden z. B. Aufträge an fachkundige, leistungsfähige sowie gesetzestreue und zuverlässige Unternehmen vergeben. Für die Auftragserfüllung können zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer gestellt werden, die insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte betreffen. Der Zuschlag wird nach Abs. 5 auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt. In der Praxis werden daraus - dem klassischen Verwaltungsrecht folgend - Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Vergabestelle abgeleitet, die der gerichtlichen Überprüfung entzogen sind. Das ist prinzipiell sachgerecht, eröffnet im Einzelfall aber eine Vielzahl von Problemen, die weitgehend ungeregelt sind und unterschiedlich gelöst werden.

1. Ermessens- und Beurteilungsspielräume führen zu deutlichen Einschränkungen der Rechtsschutzmöglichkeiten, die im Vergaberecht über § 97 Abs. 7 GWB gerade eine besonders starke Ausprägung erfahren haben.

2. Deshalb ist es erstaunlich, dass es keine erkennbaren Regelungen für die Annahme von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen gibt. Die Rechtsprechung ist uneinheitlich. Während der Bundesgerichtshof häufig das Bedürfnis nach rechtlicher Überprüfung betont und damit zu einer eher engen Anwendung der besagten Spielräume gelangt, argumentieren die Vergabekammern und -senate häufig eher vom Ergebnis her und nehmen Ermessens- und Beurteilungsspielräume dann schon an, wenn sie meinen, sich nicht in eine Sachentscheidung der Vergabestelle einmischen zu sollen.

3. Eine Regelung entsprechend § 114 VwGO „Nachprüfung von Ermessungsentscheidungen“ fehlt im GWB. Die Beschränkungen der Nachprüfung auf den Ermessensfehlgebrauch hat die Rechtsprechung im Vergaberecht aber übernommen. Dies gilt nicht für die Möglichkeit des Nachschiebens von Ermessenserwägungen zur Heilung eines Verwaltungsaktes nach § 114 Satz 2 VwGO, was im Vergaberecht regelmäßig mit den strengen Dokumentationspflichten kollidieren würde.

Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass es quasi in der Natur der Sache liegt, wenn im Vergaberecht Ermessens- und Beurteilungsspielräume eine besonders starke Rolle spielen. Anders als im klassischen Verwaltungsrecht mit belastenden und begünstigenden Verwaltungsakten geht es im Vergaberecht um den Abschluss fiskalischer Geschäftsverträge, bei dem „nur“ die Grundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung des fairen Wettbewerbs zu berücksichtigen sind. Die Definition des Leistungsgegenstandes entzieht sich beispielsweise weitestgehend der gerichtlichen Überprüfbarkeit, die Auswahl des „wirtschaftlichsten“ Bieters als Vertragspartner aber ist hinsichtlich des Auswahlverfahrens ohne Weiteres überprüfbar und nur in Bezug auf subjektive Wertungen nicht. Handlungsoptionen, die aus den Begriffen „kann“ oder „soll“ erwachsen, können ebenfalls in Bezug auf die einschlägigen sachlichen Erwägungen hin überprüft werden. Während im Gewerberecht die Zuverlässigkeit eines Unternehmers voll und ganz gerichtlich nachprüfbar ist, gilt dies für das Vergaberecht im Rahmen der Eignungsprüfung nicht. Deshalb ist und bleibt die unterschiedliche Handhabung der Beurteilungs- und Ermessensspielräume in den Nachprüfungsverfahren unbefriedigend, denn sie ist häufig genug nicht rechtlich begründet, sondern der Scheu geschuldet, sich mit Fachfragen auseinander zu setzen und die diesbezüglichen Erwägungen des Auftraggebers nachzuvollziehen. Wenn in der Praxis häufig an die Stelle der sachlichen Prüfung die formale Prüfung tritt, ob die Handhabung des Ermessens- und Beurteilungsspielraums ausreichend dokumentiert ist, greift die Nachprüfung zu kurz. Es würde Sinn und Zweck dieses Beitrags sprengen, die zahlreichen Bestimmungen des Vergaberechts auf Ermessensfreiräume und Beurteilungsspielräume zu untersuchen, zumal keinesfalls stets die Formulierung der Handlungsoptionen und der unbestimmten Rechtsbegriffe maßgeblich sind. Für die Praxis wäre aber schon viel gewonnen, wenn sie alle Beteiligten sich im konkreten Fall nicht nur nach Praktikabilitäts- und Bequemlichkeitserwägungen ausrichten würden, sondern anhand rechtlicher Erwägungen mit einer möglichst genauen Definition der Trennlinien zwischen den überprüfungsfähigen Entscheidungen und den überprüfungsunfähigen. Dies sollte mit einer kritischen Tendenz gegenüber jeder Ausweitung verbunden werden, die nicht unbedingt sein muss. Über die Beschwerdegerichte könnte eine Rechtsvereinheitlichung erreicht werden, die dem einschneidenden Charakter dieser Freiräume gerecht wird.

Wieddekindwillenbruch    

Mit besten Grüßen
Dr. Klaus Willenbruch und
Kristina Wieddekind
Taylor Wessing Hamburg

  Quelle: Taylor Wessing Hamburg


Gratis Gastzugang

Submissions-Anzeiger | Tageszeitung-Ad

Aktuelles
Seminarangebot

Baurecht- und Vergabeseminare