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Vergabeunterlagen offensichtlich falsch: Nachtrag ohne Hinweis?

17.12.2019

von Ra Michael Werner

Das OLG Celle hat mit Urteil vom 02.10.2019 – 14 U 171/18 – u.a. folgendes entschieden:

• Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen hat sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibt. Dabei kommt dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben wird, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientieren.

•  Lediglich im Fall, dass die Vergabe- und Vertragsunterlagen offensichtlich falsch sind, folgt aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers.

• Unterlässt der Auftragnehmer in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, ist er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, Zusatzforderungen zu stellen.


Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Straßenbau- und Straßenentwässerungsarbeiten zusammen im Paket ausgeschrieben. Zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen der Straße verlaufen die Gleise der Stadtbahn. Im LV zur Straßenentwässerung stand: „ Der Stadtbahnverkehr bleibt in Betrieb“, während das LV Straßenbau keinen solchen Hinweis enthielt. Vielmehr fand sich dort die Formulierung „Herstellen Fahrbahn unter Vollsperrung (analog Regelplan)“. Aus dem beigefügten Regelplan war ersichtlich, dass eine Sperrung des zu bearbeitenden Teil der Straße erfolgen sollte. Der Auftragnehmer (AN) musste die Arbeiten unter Aufrechterhaltung des gesamten Verkehrs erbringen. Aus diesem Grund machte er ca. 350.000 EUR Mehraufwand geltend. Nach Abweisung seiner Klage durch das LG legte er Berufung zum OLG ein.

Das OLG weist die Klage des AN ebenfalls ab, da das LV der Straßenbauarbeiten eindeutig sei. Beruhe der Vertragsabschluss auf einem Vergabeverfahren der VOB/A, sei die Ausschreibung mit dem Inhalt der Auslegung zugrunde zu legen, wie ihn der Empfängerkreis verstehen müsse. Grundlage der Auslegung sei der objektive Empfängerhorizont der potentiellen Bieter. Neben dem Wortlaut der Ausschreibung seien die Umstände des Einzelfalles, unter anderem die konkreten Verhältnisse des Bauwerks, zu berücksichtigen, zudem Verkehrssitte sowie Treu und Glauben. Ob die ausschreibende Stelle ein bestimmtes Problem möglicherweise nicht gesehen habe, könne die Auslegung des Vertrages nicht beeinflussen; maßgeblich sei die objektive Sicht der potentiellen Bieter und nicht das subjektive Verständnis des Auftraggebers von seiner Ausschreibung.

Ein Bauvertrag sei zudem als sinnvolles Ganzes auszulegen. Es sei davon auszugehen, dass der Bieter eine Leistung widerspruchsfrei anbieten wolle. Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen habe sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibe. Dabei komme dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben werde, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientierten.

Zwar gingen Unklarheiten der Ausschreibung grundsätzlich nicht zu Lasten des Auftragnehmers, der die ausschreibende Stelle grundsätzlich nicht auf Fehler im LV hinweisen müsse. Lediglich im Fall, dass die Verdingungsunterlagen offensichtlich falsch seien, folge aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen eine Prüf- und Hinweispflicht des Auftragnehmers. Unterlasse der AN in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, sei er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, Zusatzforderungen zu stellen.

Im vorliegenden Fall konnte und durfte der AN aufgrund des LV zu den Straßenbauarbeiten nicht annehmen, dass während der Straßenbauarbeiten kein Stadtbahnverkehr in dem von den Arbeiten betroffenen Abschnitt stattfinden würde. Dass der Stadtbahnverkehr im LV zu den Straßenbauarbeiten überhaupt nicht thematisiert worden sei, erkläre sich daraus, dass die Straßenbauarbeiten den Gleiskörper, der in der Straßenmitte zwischen den zu erneuernden Richtungsfahrbahnen verlaufe, gar nicht betroffen hätten. Die Arbeiten hätten sich vielmehr auf die Fahrbahnen und Nebenbereiche beschränkt, die im LV konkret benannt worden seien (Parkstreifen, Gosse usw.); Arbeiten am Gleiskörper sollten dagegen nicht stattfinden. Demgegenüber sei der Bereich des Gleiskörpers von den ausgeschriebenen Entwässerungsarbeiten betroffen gewesen, wie dem dortigen LV zu entnehmen sei. Eine Regelung in Bezug auf die Stadtbahn sei daher nur hinsichtlich der Entwässerungsarbeiten erforderlich gewesen.

Selbst wenn entgegen der vorstehenden Erwägungen nicht angenommen würde, das LV zu den Straßenbauarbeiten sei für einen verständigen Bieter - jedenfalls in Zusammenschau mit dem LV zu den Entwässerungsarbeiten - eindeutig, wären die weiteren hier vorliegenden besonderen Umstände zu berücksichtigen: Die Maßnahmen "Straßenbau" und "Entwässerung" seien im Paket ausgeschrieben, sie hätten denselben Bereich betroffen und sollten zur selben Zeit ausgeführt werden, und aufgrund der eindeutigen Angabe im LV zur Entwässerung sei dem AN positiv bekannt gewesen, dass der Stadtbahnverkehr während der Ausführungszeit in Betrieb bleibe. Maßgeblich sei hier eine objektive Sicht der Bieter (s.o.). Danach sei außer Zweifel gestanden, dass der Stadtbahnverkehr in Betrieb bleiben und lediglich der Arbeitsbereich vollständig abgesperrt werden sollte.

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Anmerkung:
Eine angesichts des konkreten Sachverhalts sehr interessante Entscheidung. Nach ständiger Rechtsprechung gilt eigentlich folgendes: lediglich bei kalkulationserheblichen Lücken in der Ausschreibung muss der Bieter nachfragen und darf nicht mit der für ihn günstigsten Ausführungsvariante quasi „ins Blaue hinein“ kalkulieren (BGH, 09.12.1974 - VII ZR 158/72). Wenn die Leistungsbeschreibung dagegen kalkulatorisch vollständig, aber technisch falsch oder lückenhaft (im technischen Sinne) ist, darf der Bieter diesen Umstand sogar zu seinem Vorteil nutzen (OLG München, 04.04.2013 – Verg 4/13). Im vorliegenden Fall ist dies aber zu schematisch, da hier aus Sicht eines objektiven Bieters in der Gesamtschau der beiden im Paket ausgeschriebenen Leistungen dieser schon verpflichtet gewesen wäre, beim AG nachzufragen, ob nun der Stadtbahnbetrieb während der Straßenbauleistungen insgesamt eingestellt wird oder nicht.

  Quelle: Ra Michael Werner


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