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Wann ist eine produktspezifische Ausschreibung zulässig?

17.05.2022

 

Die Vergabekammer (VK) des Bundes hat mit Beschluss vom 08.03.2022 - VK 2-16/22 – folgendes entschieden:


Ein Verstoß gegen das Gebot produktneutraler Ausschreibung liegt nicht vor, wenn die wettbewerbsbeschränkenden Vorgaben aufgrund der besonderen Anforderungen des Bauauftrags sachlich gerechtfertigt und durch das Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers gedeckt sind.

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte die Erneuerung der Fahrzeugrückhaltesysteme auf einer Autobahn im offenen Verfahren europaweit ausgeschrieben. Dabei sollte die 1,15 m hohe vorhandene Betonschutzwand (BSW) auf einem Abschnitt von 1,15 km erneuert werden. Nach dem Leistungsverzeichnis musste die neue Betonschutzwand eine Mindesthöhe von 1,10 m über Fahrbahnoberkante und die Wirkungsbereichsklasse W1 aufweisen. Bieter A sah darin einen Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung, weil diesen Leistungsvorgaben nur ein einziges Fahrzeugrückhaltesystem (eines Konkurrenten) gerecht werden könnte. Nach erfolgloser Rüge beantragte A die Nachprüfung.
Die VK gibt dem AG Recht. Zwar sei eine Wettbewerbsverengung, wenn auch nicht auf ein Produkt, gegeben; ein Verstoß gegen § 7 EU Abs. 2 VOB/A sei hier aber zu verneinen.


Grundsätzlich sei der öffentliche Auftraggeber in seiner Beschaffungsentscheidung frei. Die Entscheidung darüber, ob und gegebenenfalls was zu beschaffen sei, werde erfahrungsgemäß von zahlreichen Faktoren beeinflusst, unter anderem von technischen, wirtschaftlichen, gestalterischen oder solchen der sozialen, ökologischen oder ökonomischen Nachhaltigkeit. Die Wahl unterliege der Bestimmungsfreiheit des Auftraggebers, deren Ausübung dem Vergabeverfahren vorgelagert sei. Das Vergaberecht regele demnach nicht, was der öffentliche Auftraggeber beschaffe, sondern nur die Art und Weise der Beschaffung. Grenze des Bestimmungsrechts des öffentlichen Auftraggebers sei aber die Verpflichtung zur produktneutralen Ausschreibung gem. § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A. Diese Norm verpflichte den Auftraggeber, die Leistungsbeschreibung in einer Weise zu fassen, dass sie allen Unternehmen den gleichen Zugang zum Vergabeverfahren gewähre und nicht durch spezifische Vorgaben bestimmte Unternehmen oder bestimmte Produkte begünstige oder ausschließe.


Vorliegend sei streitig, ob noch ein weiteres BSW-System - zusätzlich zu dem von A benannten Konkurrenzprodukt - in einer erst kürzlich zugelassenen modifizierten Systemhöhe ebenfalls die Anforderungen erfüllen könne. Diese Streitfrage bedürfe aber keiner abschließenden Klärung, weil unstreitig feststehe, dass der Kreis der zur Auftragserfüllung in Betracht kommenden Produkte aufgrund spezifischer Leistungsvorgaben vorliegend jedenfalls sehr weitgehend eingeschränkt worden sei. Diese Einschränkung ergebe sich daraus, dass der AG eine höhere Mindestsystemhöhe vorgegeben habe, als die heute marktüblichen Systemhöhen für Betonschutzwände der vorgegebenen Aufhaltestufe. Gleichzeitig gebe das LV vor, dass sich die Betonschutzwand nur sehr geringfügig verschieben dürfe (Wirkungsbereichsklasse W1). Somit stehe fest, dass das LV tatsächlich Spezifikationen enthalte, die allenfalls durch zwei Produkte am Markt erfüllt werden könnten. Diese spezifische, wettbewerbsbeschränkende Einengung der in Betracht kommenden Produkte und des Bieterkreises bedürfe einer Rechtfertigung durch den Auftragsgegenstand.


Im vorliegenden Fall habe der AG nachvollziehbar dargelegt, dass die besonderen örtlichen Gegebenheiten des Streckenabschnitts (u.a. Unfallschwerpunkt, Platzmangel, Entwässerungsspezifika, Lärmschutz) es erforderten, die dort bereits seit dem Jahr 2002/2003 bestehende Betonschutzwand mit einer Systemhöhe von 1,15 m im Rahmen der Sanierungsarbeiten durch eine neue Betonschutzwand mit einer Mindesthöhe von 1,10 m und weitgehend gleichbleibenden Anforderungen auch an den Wirkungsbereich zu ersetzen. Der AG bewege sich innerhalb seines Beurteilungsspielraums, wenn er innerhalb des knappen zur Verfügung stehenden Platzes sein Leistungsbestimmungsrecht dahingehend ausübe, ein möglichst hohes Schutzniveau zu realisieren und das Ziel verfolge, jedenfalls nicht hinter das bereits bestehende Schutzniveau im Zuge einer Sanierung zurückzufallen. Es sei daher nachvollziehbar, dass sowohl der AG als auch die zuständige Wasserschutzbehörde die Aufrechterhaltung des Status quo als Bestandschutz zugunsten des angrenzenden Wasserschutzgebiets vorgäben.
Vorliegend sei auch keine diskriminierende Wirkung der Leistungsvorgaben zu Lasten des A feststellbar. Vielmehr scheine es sich vorliegend um einen Fall zu handeln, in dem ein Bieter erfolgreich, ein - nach Auffassung des A - eigentlich veraltetes Produkt mit Systemhöhen weiterhin anbiete, die mittlerweile von anderen Bietern am Markt nicht mehr angeboten würden. A mache auch nicht geltend, dass es grundsätzlich unmöglich wäre, ein solches Produkt selbst noch oder wieder anzubieten und die erforderlichen Kennzeichnungen und Zertifikate dafür einzuholen. Dieser Aufwand werde lediglich als nicht wirtschaftlich eingeschätzt, weil die heutige Nachfrage sich in Richtung niedrigerer Systemhöhen und damit wirtschaftlicherer Systemlösungen entwickelt habe.
Wenn allerdings einzelne Bieter gleichwohl ein entsprechendes Angebot aufrechterhielten, die entsprechenden Kosten trügen und auf diese Weise einen weiterhin aktuell bestehenden Bedarf - wie hier aufgrund besonderer örtlicher Gegebenheiten – befriedigen würden, scheine dieser Wettbewerbsvorteil auf einer marktgerechten Produktdifferenzierung im Wettbewerb und nicht auf diskriminierenden Leistungsvorgaben des öffentlichen Auftraggebers zu beruhen.

Anmerkung:

Wie die Entscheidung zeigt, ist nicht jede produktspezifische Ausschreibung automatisch ein Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung gem. § 7 EU Abs. 2 VOB/A. Allerdings sollte sich der AG bereits im Vorfeld der Ausschreibung mit dieser Thematik auseinandersetzen und solche – im Endeffekt wettbewerbsbeschränkende – Vorgaben nur dann in Betracht ziehen, wenn diese technisch unumgänglich oder im Vergleich zu anderen marktgängigen System nachweislich vorteilhaft sind. Dies hat der AG dann zu begründen und – schon im eigenen Interesse – sorgfältig zu dokumentieren, um im Streitfalle die Berechtigung seiner produktspezifischen Ausschreibung nachweisen zu können.

  Quelle: RA Michael Werner


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