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Wenn das Leitprodukt zum Feigenblatt mutiert

02.04.2013

Im Zusammenhang mit dem Gebot der produktneutralen Ausschreibung werden oft Fehler gemacht. Dabei kann es sein, dass die Vergabestelle überzeugt ist, dem Gebot der Produktneutralität durch Bezeichnung eines Leit-produkts mit dem Zusatz gleichwertig nachzukommen. Zur Begründung wird angeführt, dass der Bieter jederzeit ein anderes, gleichwertiges Produkt anbieten könne. Im anderen Fall hat die Vergabestelle objektiv einen sachlichen Rechtfertigungsgrund, ausnahmsweise produktspezifisch auszuschreiben. Dennoch fügt sie den Zusatz „oder gleichwertig“ an, weil sie sich unsicher ist und das Gebot nicht verletzen möchte.

Der Grundsatz der Produktneutralität

Das Gebot der Produktneutralität findet man in Art. 23 Abs. 8 RL2004/18/EG, weitgehend gleichlautende Formulierungen in den Vergabeordnungen: Soweit es nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist, darf in technischen Spezifikationen nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren oder auf Marken, Patente, Typen, etc. verwiesen werden, wenn dadurch Unternehmen oder Produkte begünstigt oder ausgeschlossen werden. Solche Verweise sind ausnahmsweise zulässig, wenn der Auftragsgegenstand nach den Absätzen 3 und 4 nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann; sie sind mit dem Zusatz „oder gleichwertig“ zu versehen. Dieses Gebot ist Ausfluss des Wettbewerbsgrundsatzes und des Verbots der Diskriminierung.

Der Grundsatz der Bestimmung des Leistungsgegenstands

Von Bedeutung ist ebenfalls der Grundsatz, dass der Auftraggeber den Leistungsgegenstand zu bestimmen hat. Das OLG Düsseldorf weist in einer Vielzahl von im Tenor gleichlautenden Entscheidungen darauf hin (zuletzt 1. August 2012 Verg. 10/12 „Warnsystem“), dass die Phase der Leistungsbestimmung dem Vergabeverfahren zeit-lich vorgelagert ist.

Beide Grundsätze gemeinsam oder allein?

Eine Unvereinbarkeit der beiden Grundsätze liegt nach Auffassung des OLG Düsseldorf nicht vor. Die Lösung liegt in der Schlussfolgerung, dass die Beschaffungsfreiheit bei Durchführung des Vergabeverfahrens durch das Gebot der Produktneutralität begrenzt wird. Allerdings gibt es Gründe, die eine Ausnahme von dem Gebot der Produktneutralität rechtfertigen können und die die Definition des Art. 23 RL bereits enthält.

Autonomie des Auftraggebers wird gestärkt

In der Entscheidung von 27. Juni 2012 zum Thema „Fertigspritzen mit abnehmbarer Kanüle“ stärkt das OLG Düsseldorf die Autonomie des Auftragsgebers (VII Verg 7/12). Der Auftraggeber hatte sich entschieden, Fertig-spritzen auszuschreiben, für die er eine bestimmte technische Anforderung festlegte. Seine Rechtfertigung waren medizinische Erwägungen, insbesondere die notwendige Entscheidungsfreiheit des Arztes, das richtige Spritzenbesteck für den jeweiligen Patienten zu wählen. Das hat das OLG Düsseldorf als sachlichen Rechtfertigungs-grund gelten lassen und die Beschwerde eines Unternehmens abgewiesen, das darin die Verletzung der Produktneutralität und eine unzulässige Einschränkung des Wettbewerbs rügte. Das Gericht weist erneut darauf hin, dass der Auftraggeber ein Leistungsbestimmungsrecht habe, das der eigentlichen Ausschreibung vorgelagert ist. Zwingend fordert das OLG Düsseldorf allerdings, dass die sachlichen Erwägungen auftragsbezogen sind.

Die Grenze der Beschaffungsfreiheit wird durch den Grundsatz der Produktneutralität markiert

Dieser Grundsatz kennt zwei Ausnahmegruppen: Sachliche Rechtfertigungsgründe ergeben sich unter ande-rem aus der Nutzung der Sache, aus technischen Zwängen aber auch aus unverhältnismäßig höheren Kosten für die Ersatzteilvorhaltung oder den Schulungsaufwand bei produktneutraler Beschaffung. Oft werden Leistungen zu vorhandenem Bestand beschafft. Allen Fällen ist gemeinsam, dass der Zusatz „oder gleichwertig“ nicht nur überflüssig, sondern geradezu irreführende Spielräume bei den Bietern suggeriert und zu Angeboten führen könnte, die wegen unzulässiger Änderung am Leistungsverzeichnis aus formalen Gründen ausgeschlossen werden müssten. Der Zusatz ist daher in diesen Fällen unzulässig.

Ein sogenanntes „Leitprodukt“ darf benannt werden, wenn der deutsche Wortschatz, europäische/nationale Normen und ähnliches nicht ausreichen, mit allgemein verständlichen Worten den Leistungsgegenstand eindeutig und umfassend zu beschreiben. Das kommt jedoch so gut wie nie vor. Sollte dennoch einer der seltenen Fälle vorliegen, ist zwingend - und nur dann - der Zusatz „oder gleichwertig“ anzufügen. Hier trägt der Bieter die Beweislast für die Gleichwertigkeit seines Produkts und der Auftraggeber für die fehlende Gleichwertigkeit.

Unterschiedliche Auslegungen

Insbesondere zwei Gerichte, OLG Jena (Verg. 2/06 „Brandlöschsystem für Anna-Amalia-Bibliothek“) und OLG Celle (Verg. 13 Verg. 1/08 „Ultra-Schall-Farbdoppler-System“) fallen durch eine vom OLG Düsseldorf abweichen-de Rechtsprechung auf. Sie halten eine Markterkundung für weiterhin unerlässlich und geben dem Auftraggeber auf, im Rahmen der Ausübung seines Beurteilungsspielraums inzident andere Lösungsvarianten als nicht geeignet ausschließen (und zu dokumentieren). Danach hat sich der Auftraggeber einen möglichst breiten Überblick über den Markt zu verschaffen.

Die Vergabekammern und OLGs sind sich einig, dass sie keine Nachprüfungsinstanz für die Sinnhaftigkeit der Entscheidung des Auftraggebers sind (VK Sachsen SVK/004-11 vom 22. März 2011 nachfolgend OLG Dresden WVerg 0003/11 vom 17. Mai 2011). Ein Mitbewerber kann also nicht geltend machen, die Beschaffung sei unsin-nig formuliert. Dieses Risiko trägt allein der Auftraggeber, er kann nur auf die Ausführung der ausgeschriebenen Leistung bestehen und darüber keine Rechte gegenüber dem Bieter geltend machen. Dieser muss nur seiner Hinweispflicht genügen. Somit bleiben die Angebote vergleichbar.

Verletzung der Produktneutralität

Eine Leistung wird produktneutral formuliert; durch ein den Vergabeunterlagen beigefügtes Produktdatenblatt, das nicht anderes ist als ein neutralisiertes Datenblatt des sogenannten „Wunschprodukts“, werden die Spezifikationen derart genau gefasst, dass nur ein einziges Produkt angeboten werden kann. Gleiches gilt, wenn das Leistungsverzeichnis so präzise formuliert wird, dass nur ein Produkt/Verfahren dies erfüllen kann. Oft findet man in diesen Fällen auch Indizien, die eine unzulässige Einschränkung des Wettbewerbs unterstreichen: es geht nur ein Angebot ein, Nebenangebote sind ausgeschlossen, nur ein Bieter kann das Produkt anbieten oder es gibt keine Ausweichmöglichkeit, die Leistung anders anzubieten. Wenn diese Umgehungstatbestände vorliegen, ist das Gebot der Produktneutralität verletzt.

Tipps für Ausschreibungen

Gibt es gute Gründe, produktspezifisch auszuschreiben, ist dies rechtssicher umzusetzen und zu dokumentieren.

Auf den Zusatz „oder gleichwertig“ ist in der Regel zu verzichten.

Es ist zu gewährleisten, dass der Wettbewerb unter Bietern nicht auf wenige beschränkt wird.

Falls der Wettbewerb auf einen oder wenige Bieter beschränkt ist, ist eine Markterkundung im Vorfeld erforderlich.

Nachprüfungen können nicht dem Zweck dienen, die Sinnhaftigkeit der ausgeschriebenen Leistungen zu überprüfen.

Ansprechpartnerin zum Thema ist Frau Rechtsanwältin Brigitta Trutzel, Geschäftsführerin der Auftragsberatungsstelle Hessen, www.absthessen.de.

  Quelle: www.absthessen.de


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