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Zur Ausnutzung von Fehlern in der Ausschreibung

21.04.2020

von Ra Michael Werner

Die Vergabekammer (VK) Lüneburg hat mit Beschluss vom 21.01.2020 – VgK-41/2019 – u. a. folgendes entschieden:

• Erkennt ein Bieter mögliche Fehler in den Vergabeunterlagen, ist er nicht dazu verpflichtet, eine Rüge auszusprechen. Es steht ihm frei, einen angenommenen Wettbewerbsvorteil nicht offenzulegen und auf die Rüge zu verzichten.

• Rügt ein Bieter einen erkannten Vergaberechtsverstoß nicht und reicht er dessen ungeachtet ein Angebot ein, muss er es so gestalten, dass es den Vorgaben des Auftraggebers vollständig entspricht. Das gilt auch dann, wenn das vom Auftraggeber erstellte Leistungsverzeichnis nach Ansicht des Bieters mehr Positionen enthält, als tatsächlich anfallen werden.

• Die Rüge muss vor dem Nachprüfungsantrag erhoben werden. Eine zeitgleiche Erhebung genügt nicht. In Ermangelung einer bestehenden Wartepflicht genügt eine unmittelbar vor Abgabe des Nachprüfungsantrags erhobene Rüge den gesetzlichen Anforderungen.

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Leistungen der Entsorgung bzw. Weiterverwendung von bei Erschließung eines Neubaugebietes anfallendem Boden europaweit im Offenen Verfahren ausgeschrieben. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Das LV enthielt einzelne Positionen der Entsorgung bzw. Weiterverwendung des Bodens, denen der AG bestimmte Mengenangaben auf Grundlage seiner Einschätzung zuordnete.

Bieter A, der umfassende konkrete Ortskenntnisse besaß, gab das günstigste Angebot ab, hatte darin aber einzelne Positionen des LV nicht ausgefüllt, weil er der Auffassung war, dass diese bei der ausgeschriebenen Leistung nicht anfallen würden. In der Folge wurde sein Angebot wegen Abweichungen an den Vergabeunterlagen ausgeschlossen. Darauf rügte A seinen Ausschluss und legte wenige Minuten später Nachprüfungsantrag bei der VK ein. Der AG meinte, der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig, da er wegen der zeitlichen Nähe zur Rüge keine Möglichkeit gehabt habe, auf die Rüge zu reagieren und den Nachprüfungsantrag abwenden zu können.

Die VK erkennt den Antrag als zulässig, aber als unbegründet. Zugunsten von A nehme die VK an, er habe zuerst die Rüge erhoben und erst unmittelbar danach den Nachprüfungsantrag abgegeben. An der gesetzlichen Reihenfolge, dass die Rüge vor dem Nachprüfungsantrag erhoben werden müsse, halte die VK fest. Eine zeitgleiche Erhebung genüge nicht. Da der Gesetzgeber jedoch keine Wartepflicht eingeführt habe, genüge schon die unmittelbar vor Abgabe des Nachprüfungsantrags erhobene Rüge formal den Anforderungen des § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB. Dass dem AG in diesem Fall die Möglichkeit zur Abhilfe verwehrt werde, die Rüge also ihre Befriedungsfunktion nicht mehr erfüllen könne, sei richtig, könne aber im Fall der Abhilfe über eine Kostenentscheidung nach § 182 GWB angemessen gewürdigt werden.

Der Nachprüfungsantrag sei aber unbegründet. Der AG sei hier gemäß § 16 EU Nr. 2 VOB/A verpflichtet gewesen, das Angebot des A auszuschließen. Dabei sei ihm kein eigenes Ermessen zugestanden. Nach dieser Vorschrift seien Angebote auszuschließen, die den Bestimmungen des § 13 EU Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 VOB/A nicht entsprächen. Gemäß § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/A sei das Angebot auf der Grundlage der Vergabeunterlagen zu erstellen. Änderungen an den Vergabeunterlagen seien unzulässig. Das OLG Naumburg (Urteil vom 27.06.2019 – 2 U 11/18) habe jüngst wegen der Zahlungsklage hinsichtlich einer Nachtragsposition entschieden:

„Ein Bieter darf bei einem erkennbar lückenhaften Leistungsverzeichnis nicht einfach von einer ihm günstigen Preisermittlungsgrundlage ausgehen, sondern muss sich daraus ergebende Zweifelsfragen vor Abgabe seines Angebots zu klären versuchen.“ Das gelte erst recht in einem Fall wie hier, in dem das LV nicht lückenhaft erscheine, sondern nach möglicherweise zutreffender Einschätzung des A mehr Positionen aufweise, als tatsächlich anfallen würden.

Der A habe hier keine Rüge gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 2, Nr. 3 GWB erhoben. Er sei daher an den Inhalt der Vergabeunterlagen gebunden. Nach dieser Vorschrift sei der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung (Nr. 2) bzw. den Vergabeunterlagen (Nr. 3) erkennbar seien, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden. Dabei genüge schon die objektive Erkennbarkeit des angeblichen Vergabefehlers. Es sei unerheblich, ob der Antragsteller den Verstoß tatsächlich erkannt habe. Maßstab für diese objektive Erkennbarkeit des Vergaberechtsverstoßes sei die Erkenntnismöglichkeit eines durchschnittlich fachkundig handelnden Bieters bei Anwendung üblicher Sorgfalt. Bieter A sei ein fachkundiger Bieter, betreibe selbst eine Bodenaufbereitungsanlage und habe im Verfahren zunächst auch ohne anwaltliche Begleitung eine fachlich versierte Diskussion darüber geführt, wie die Verwendung bzw. Entsorgung des Bodens im Spannungsfeld zwischen Bundesbodenschutzverordnung, Kreislaufwirtschaftsgesetz und der technischen Regel Boden der LAGA M 20 zulässig sei. Die VK nehme daher an, dass für A etwaige Fehler in den Vergabeunterlagen hinsichtlich abfallrechtlicher Fehleinschätzungen objektiv erkennbar gewesen seien. Somit hätte er etwaige Fehler bis zum Ablauf der Angebotsabgabefrist rügen müssen, wenn er sich im Vergabenachprüfungsverfahren darauf berufen wolle.

Erkenne ein Bieter mögliche Fehler in den Vergabeunterlagen, sei er nicht verpflichtet, eine Rüge auszusprechen. Die Rüge ermögliche es ihm, die Fehleinschätzung des Auftraggebers zu korrigieren und aufgrund der zu ändernden Vergabeunterlagen ein besonders günstiges Angebot abzugeben. Das betreffe beispielsweise die von A vorgetragene Annahme eines ortskundigen Bieters, der zu verwendende oder zu entsorgende Boden werde sich als weniger belastet als in den Vergabeunterlagen angenommen erweisen. Durch die Änderung der Vergabeunterlagen werde dieser Wettbewerbsvorteil allerdings auch den anderen Bietern offengelegt, könne daher auch von diesen genutzt werden. Es stehe dem Bieter frei, einen angenommenen Wettbewerbsvorteil nicht offenzulegen und auf die Rüge zu verzichten. In diesem Fall müsse er allerdings sein Angebot so gestalten, dass es den Vorgaben des Auftraggebers vollständig entspreche, was hier nicht der Fall gewesen sei.

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Anmerkung:
Die Entscheidung ist unter zwei Aspekten besonders interessant:
• Im nicht seltenen Fall, dass ein Bieter den Leistungsgegenstand und dessen konkrete Umstände besser kennt als der AG selbst, ist es vergaberechtlich durchaus zulässig, dies auszunutzen und durch eine entsprechende Bepreisung des LV einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Wichtig dabei ist jedoch, dass er das LV ordnungsgemäß und vollständig bepreist, ohne – aus seiner Sicht evtl. durchaus sinnvolle – Änderungen am LV vorzunehmen.

• Grundsätzlich ist vor Stellung eines Nachprüfungsantrags ein erkannter Vergabeverstoß zu rügen. Ausnahmsweise können Rüge und NP-Antrag in unmittelbarer zeitlicher Abfolge eingelegt werden, speziell wenn die Gefahr besteht, dass der AG in kurzer Zeit durch Zuschlag vollendete Tatsachen schafft.

  Quelle:


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