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Zur sorgfältigen Schätzung des Auftragswertes

20.08.2019

von Ra Michael Werner

Die Vergabekammer (VK) Westfalen hat mit Beschluss vom 27.05.2019 – VK 2-6/19 – folgendes entschieden:

Die Durchführung einer freihändigen Bauvergabe oberhalb des EU-Schwellenwerts ist im GWB, der VgV und der VOB/A-EU nicht geregelt und deshalb als Verfahren schlichtweg unzulässig.

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte mit Vorinformation vom 03.06.2017 bekannt gegeben, den Neubau eines Bürgerzentrums zu beauftragen. Leistungsinhalt waren der Abriss des bestehenden Rathauses, die Planung und schlüsselfertige Errichtung des Neubaus sowie die Umzugsmaßnahmen. In der Vorinformation führte der AG aus, den Auftrag im Wege einer freihändigen Vergabe nach VOB/A Abschnitt 1, aber angelehnt an ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vergeben zu wollen, da er den Gesamtauftragswert mit 4,6 bis 5,05 Mio. Euro geschätzt hatte. Als Zuschlagskriterien waren der Preis und die Qualität mit je 50 Prozent Gewichtung angegeben. Im folgenden Verfahren gaben zwei Bieter Erstangebote ab, die beide ca. 1 Mio. Euro über den geschätzten Kosten lagen. Um die Angebotspreise zu reduzieren, änderte der AG darauf mehrfach die gestellten Anforderungen und auch die Zuschlagskriterien. Nachdem er dem Bieter A mitgeteilt hatte, dass sein Angebot nicht den Zuschlag erhalten sollte, griff dieser nach entsprechender Rüge das Verfahren unter mehreren Aspekten an, insbesondere wegen falscher Kostenschätzung des AG.

Die VK gibt Bieter A Recht und setzt das gesamte Verfahren in den Stand vor der Wahl des Verfahrens zurück. Bereits die Kostenschätzung des AG sei grob fehlerhaft gewesen, es hätte hier ein europaweites Verfahren durchgeführt werden müssen. Nach ständiger Rechtsprechung sei Ausgangspunkt für die Ermittlung des maßgeblichen Schwellenwerts die vom AG vorgenommene Auftragswertschätzung zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens, soweit diese ordnungsgemäß erfolgt sei. Diese sei dann ordnungsgemäß, wenn der öffentliche AG Methoden angewandt habe, die ein wirklichkeitsnahes Schätzungsergebnis ernsthaft erwarten ließen (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.2016 – X ZR 122/14). Maßgeblicher Zeitpunkt zur Ermittlung des Auftragswertes und damit der Feststellung, ob der Schwellenwert überschritten werde, sei nach § 3 Abs. 3 VgV der Tag der Absendung der Auftragsbekanntmachung; zu diesem Zeitpunkt sei hier der Schwellenwert für Baumaßnahmen 5,225 Millionen Euro gewesen.

Vor dem Hintergrund der Gestaltung des Vergabeverfahrens, also der Bewertung des Preises von 50 Prozent, der Qualität mit 50 Prozent und damit der Einräumung eines nicht unbeträchtlichen Maßes an Planungsfreiheit für einen ansprechenden Entwurf, halte die VK die Prognose eines maximal zu erwartenden Gesamtauftragswerts, der knapp den Schwellenwert unterschreite, für schlicht praxisfremd. Ausreichend sei nicht, wie der AG angeführt habe, dass seine Kostenberechnung und Planung zeige, dass man das Bauvorhaben irgendwie innerhalb dieses Kostenrahmens errichten könne. Ein solcher Entwurf werde dann zwar die Höchstpunktzahl beim Kriterium Preis erreichen, dafür aber bei der Qualität stark abfallen und damit wohl keine Chance auf den Zuschlag haben. Vielmehr müsse der AG entsprechend § 3 Abs. 1 VgV die vorgesehenen Leistungen in der gewünschten Qualität für die Schätzung zu Grunde legen, gerade wenn die Qualität – wie hier – für den Zuschlag eine derart bedeutende Rolle spiele. Der AG habe herausgestellt, dass er besonderen Wert auf die städtebauliche, architektonische und funktionale Qualität lege. Dann müsse er dies jedoch auch in seiner Schätzung ausreichend berücksichtigen. Zuzugeben sei dem AG, dass es im Zeitraum der Auftragswertschätzung für ihn nicht vorhersehbar sei, welche Lösungen die Bieter präsentieren würden.

Dass er aber genau festzulegen vermöge, welcher Auftragswert voraussichtlich nicht überschritten werde, erscheine der VK nicht nachvollziehbar, zumal gerade keine konkrete und detaillierte Leistungsbeschreibung existiert habe. Der hier vom AG gewählte Aufschlag von 2 Prozent auf den zu erwartenden Gesamtauftragswert sei als deutlich zu gering zu bewerten. Nach Auffassung der VK sollte dieser hier, gerade aufgrund der Gestaltung des Verfahrens, wenigstens 10 Prozent betragen, was noch im üblichen Rahmen liege. Angesichts der vom AG angestrebten gestalterischen Qualität könne dieser aber durchaus noch höher anzusetzen sein. Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob sich dem AG nicht schon hätte aufdrängen müssen, dass seine Auftragswertschätzung für das vorliegende Verfahren nicht mehr zutreffend sei und deshalb deren Überarbeitung sowie ein Neustart des Verfahrens angezeigt gewesen wäre. Bereits bei den Angeboten auf der ersten Stufe, die nah beieinander gelegen, jedoch die Auftragswertschätzung schon um mehr als eine Million Euro überstiegen hätten, hätten sich beim AG Zweifel an seiner Kostenschätzung auftun müssen. Schon durch diese ersten indikativen Angebote sei die Schwelle der Abweichung von der Auftragswertschätzung zum günstigsten Angebot von 20 Prozent, die nach der jüngeren Rechtsprechung als Indikator für die Möglichkeit der Aufhebung einer Ausschreibung vorzunehmen gelte, weit überschritten. Mit der Überschreitung des damals gültigen Schwellenwertes von 5,225 Mio. Euro hätte der 4. Teil des GWB, die VgV und die EU VOB/A durch den AG Anwendung finden müssen. Danach sei die Durchführung einer freihändigen Vergabe oberhalb des Schwellenwerts nicht geregelt und deshalb schlichtweg als Verfahren unzulässig. Zusätzlich sei auch ein Verstoß gegen § 97 Abs. 1 und Abs. 2 GWB gegeben, da der AG hier Änderungen an den Zuschlagskriterien und deren Bewertung vorgenommen habe, diese jedoch weder europaweit bekannt gemacht noch den Unternehmen mitgeteilt habe, die ihr Interesse zuvor bereits am Auftrag bekundet hätten, sondern lediglich den einzigen zwei Teilnehmern am Wettbewerb offenbart habe.

Gemäß § 127 Abs. 5 GWB müssen die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufgeführt werden. Der Gesetzgeber gebe zwar keine Hinweise dazu, welche konkreten Maßnahmen zu erfolgen hätten, wenn während eines laufenden Vergabeverfahrens der Auftraggeber seine Zuschlagskriterien ändere. In der Rechtsprechung sei aber allgemein anerkannt, dass die Änderung von Zuschlagskriterien an sehr enge Voraussetzungen gebunden sei, weil dadurch die allgemeinen Wettbewerbsgrundsätze auf Transparenz und Gleichbehandlung im Sinne von § 97 Abs. 1 und Abs. 2 GWB beeinträchtigt sein könnten. Die VK sei der Auffassung, dass bei solchen Änderungen im Vergabeverfahren, die erhebliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hätten, nicht nur die teilnehmenden Bieter zu informieren seien, sondern durch eine erneute Auftragsbekanntmachung auch andere interessierte Unternehmen. Ansonsten könnten in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen z. B. hohe Anforderungen an die Teilnahme am Verfahren oder die Zuschlagskriterien gestellt werden, die dann im weiteren Verlauf zugunsten von wenigen verbleibenden Bietern einfach heruntergesetzt würden. Damit könne ein Auftraggeber den Wettbewerb in erheblichen Maße einschränken, wenn nicht sogar manipulieren, ohne dass er eine Nachprüfung zu befürchten habe.

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Anmerkung:
Die Entscheidung zeigt sehr deutlich, welch eminent hohe Bedeutung eine sorgfältige, einwandfreie, realistische und vor allem auch aktuelle Kostenschätzung im Verfahren hat. Ist bereits die Kostenschätzung des AG fehlerhaft oder schlampig durchgeführt, besteht die große Gefahr, dass im gesamten Verfahren „der Wurm drin ist“, der dann auch nicht mehr herauszubekommen ist.

Im hier vorliegend von der VK entschiedenen Fall hatte der AG – trotz „Niederlage auf der ganzen Linie“ – letztlich noch „Glück im Unglück“. Da die hier ausgeschriebene Baumaßnahme öffentlich gefördert war, hätte – wäre der Auftrag tatsächlich vergeben und ausgeführt worden – wegen der evident gegebenen Rechtswidrigkeit des Verfahrens die Rückforderung sämtlicher Fördermittel gedroht, mit der Folge, dass es für den Auftraggeber extrem teuer geworden wäre.

  Quelle:


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